Bindungsstörung: Geschichte eines Patienten

Bindungsstörung: Geschichte eines Patienten

Der fünfjährige Felix* ist seit vier Monaten stationär auf der Kinderstation «Linde C» in Littenheid. Seine Diagnosen lauten «Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters» und «ADHS», Doppeldiagnosen sind häufig. Er hatte sich noch nie auf eine zuverlässige Bindung verlassen können, obwohl seine Mutter sagt, er sei nach mehreren Fehlgeburten ein Wunschkind gewesen. Bei seiner Geburt hatte Felix eine Hirnblutung, sein Leben hing an einem seidenen Faden. Mit der Ungewissheit, ob er überlebt und wenn ja, mit welchen Beeinträchtigungen, konnte seine Mutter nicht umgehen. Sie nahm Abstand und war im Spital nie an Felix’ Bett präsent. Entgegen aller Voraussagen hat Felix sich sehr gut erholt, sein Entwicklungsstand liegt heute im Normalbereich.

Noch vor Felix’ erstem Geburtstag wurde seine Mutter ungewollt erneut schwanger. Die Schwangerschaft verlief schwierig, so dass sie ihrem Erstgeborenen viel zu wenig Aufmerksamkeit schenken konnte. Felix konnte nie die Erfahrung machen, dass jemand für ihn da ist, ihn tröstet, wenn er traurig ist oder sich wehgetan hat. Seine Gefühle hat er nie zu regulieren gelernt. Felix wurde emotional vernachlässigt. Nach der Geburt seines kleinen Bruders verhielt sich der Vater stets unberechenbar, war aufbrausend und jähzornig. Er setzte seinen Kindern keine Grenzen, liess sie gewähren, bis es ihm jeweils plötzlich zu viel wurde und er «austickte». Seine Gewaltausbrüche richteten sich aber nicht nur gegen seine Familie, sondern auch gegen Fremde. Heute sitzt der Vater eine Gefängnisstrafe wegen schwerer Körperverletzung ab.

«Felix war schon immer ein schwieriges Kind», sagt die Mutter, die selber unter einem gewalttätigen Vater litt. Als der Junge etwa zwei Jahre alt war, wollte sie sich vom Vater der beiden Buben trennen. Als Felix daraufhin von seinem Vater entführt wurde, traute sie sich aus lauter Angst zwei Wochen lang nicht, die Polizei einzuschalten. Nach seinem Auszug schlich sich der Vater immer wieder in die Familienwohnung, versteckte sich und erschreckte seine Frau und die Kinder zu Tode. Inzwischen sind die Eltern geschieden, die Mutter hat wieder geheiratet und noch ein Kind bekommen. Immer noch lebt sie in grosser Angst vor ihrem Exmann und deshalb an einem geheimen Ort, alle Kontakte zu Freunden hat sie gekappt.

Mit der Erziehung ihrer drei Kinder war die Mutter so sehr überfordert, dass sie nicht in der Lage war, den Alltag mit ihnen zu bestreiten. Die beiden älteren Buben wurden deshalb in einer sozialpädagogischen Institution platziert. Weil Felix sich dort sehr aggressiv verhielt und andere Kinder biss, kam er vor vier Monaten nach Littenheid. Zu Beginn zeigte er sich hier im Umgang mit Erwachsenen äusserst ängstlich, mit anderen Kindern hingegen sehr bestimmend, obwohl er mit Abstand der Jüngste auf seiner Gruppe war. Auch hier war er aggressiv, spielte dauernd Krieg, Kampf, Angriff, Mord und Totschlag. Er war wegen seiner grossen Vernachlässigungserfahrung stark verunsichert.

In Littenheid hat Felix Strukturen erhalten, auf die er sich stets verlassen konnte – sowohl mit seinen Bezugspersonen, als auch beim Tagesablauf. Bewegung tat ihm gut und so war er oft mit dem Velo auf dem Klinikgelände unterwegs. Felix lernte beim Spiel mit Figuren positive Szenen des alltäglichen Lebens kennen, zum Beispiel, dass andere Figuren zu Besuch kommen, um gemeinsam etwas Schönes zu erleben. Sein Zustand konnte während seines Aufenthalts in Littenheid deutlich verbessert werden, Felix hat jetzt mehr Ausdauer und kann sich nun auch auf ein ruhigeres Spiel einlassen. Er hat Grenzen kennengelernt und konnte Freude für Vieles entwickeln. Noch immer Mühe bereitet es ihm, seine Emotionen zu zeigen.

Während seines stationären Aufenthalts hat die Mutter ihr Besuchsrecht regemässig wahrgenommen, Felix freute sich immer sehr auf sie. Hin und wieder durfte er das Wochenende zu Hause verbringen. Nach einer Eingewöhnungsphase tritt Felix nun in ein Sonderschulwohnheim für verhaltensauffällige Kinder ein, wo er in den Kindergarten kommt und weiterhin professionell begleitet werden kann. Er ist es gewohnt, nicht bei seiner Familie zu leben. Der Abschied aus Littenheid fiel ihm schwer. Am letzten Abend gaben ihm die Kinder aus seiner Gruppe gute Wünsche mit auf den Weg, einer davon lautete: «Ich wünsche dir, dass du gute Freunde findest und glücklich wirst».

* Name geändert

Teil 1: Symptome und Diagnose

Teil 2: Ursachen

Teil 3: Behandlung

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