Jugendliche und junge Erwachsene bilden die Altersgruppe, die in der Schweiz am häufigsten an einer Depression erkrankt. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das Gehirn in der Adoleszenz besonders vulnerabel ist.
Für eine Depression im Kindes- und Jugendalter gibt es meist keinen einzelnen Auslöser. Die Erkrankung entsteht aus einem Zusammenspiel von biologischen und psycho-sozialen Ursachen. Genetische Prädisposition, Reifungsprozesse im Gehirn, Lebensereignisse, Persönlichkeitsfaktoren, Umwelt, Stress, Lichtentzug, Medikamente und körperliche Erkrankungen beeinflussen die Entstehung.
Biologische Ursachen
Dass sich Depressionen in der Adoleszenz besonders häufig manifestieren, ist kein Zufall. Im Jugendalter entwickeln sich die einzelnen Gehirnregionen in unterschiedlichem Tempo. Bestimmte subkortikale, also unterhalb der Gehirnrinde liegende, Gebiete, wie die Amygdala, spielen eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen und entwickeln sich früh. Der präfrontale Kortex hingegen, ein Teil der Gehirnrinde im Stirnbereich, reift erst später und ist ausschlaggebend für die Emotionsregulation. Dies führt zu Imbalance: Die Emotionen sind zwar schon da, die Kontrolle über sie hingegen fehlt noch. Die Gehirne von Jugendlichen reifen nicht nur anders, sie verarbeiten negativen Input auch anders als erwachsene Gehirne. Wenn adoleszente Gehirne bestrafende Lernimpulse verarbeiten, so ist die Gehirnaktivität in der sogenannten vorderen Inselregion wesentlich höher als bei Erwachsenen. Jugendliche Gehirne reagieren also ausserordentlich stark auf negativen Input, Verlust und Bestrafung und speichern dies. Jugendliche reagieren dadurch intensiver auf negatives Feedback mit Auswirkungen auf Stimmung und Selbstwertgefühl. Bei Erwachsenen hingegen wird Feedback besser mit bisherigen Erfahrungswerten aus früheren Situationen abgeglichen und relativiert, da im Gehirn eine stärkere Verbindung zwischen Gehirnrinde (bewusste Verarbeitung) und tieferliegenden Strukturen besteht.
Nebst Reifungsprozessen im Gehirn hat auch die hormonelle Umstellung während der Pubertät Einfluss auf die Entstehung einer Depression. Ein Anstieg von Sexualhormonen, wie Östrogen und Testosteron, sowie die erhöhte Ausschüttung des Stresshormons Cortisols (gesteigerte Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) führen auch auf hormoneller Ebene zu Imbalance. Chronisch erhöhte Cortisolspiegel wirken depressionsfördernd. Vermutet wird, dass die erhöhte Vulnerabilität von weiblichen Jugendlichen für Depression durch die hormonelle Umstellung in der Pubertät mit verursacht sein könnte.
Psycho-soziale Ursachen
Mindestens so entscheidend wie biologische Faktoren sind personen- und umfeldbezogene Einflüsse. In einer Unicef-Studie in 2021 gaben 89% der Schweizer 14-19jährigen Jugendlichen mit Symptomen einer Depression und/oder Angststörung an, mindestens eine negative Kindheitserfahrung gemacht zu haben. Ein Drittel von ihnen erlebte sogar vier oder mehr negative Kindheitserfahrungen. Eine Meta-Analyse (Mandelli 2015), welche die einzelnen Formen von frühen traumatisierenden Kindheitserfahrungen und ihren Einfluss auf Depression bei Erwachsenen untersucht hat, identifizierte emotionalen Missbrauch als stärksten Risikofaktor, gefolgt von anderen Faktoren wie Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch und körperlicher Gewalt. Werden solche Erfahrungen von einem reifenden Gehirn, welches Emotionen noch nicht ausreichend reguliert und negative Erfahrungen intensiv abspeichert, verarbeitet, führt dies zu erheblicher, chronischer Belastung. Auch Mobbing, das Gefühl ungeliebt zu sein, Diskriminierungserfahrungen (insbes. bezüglich sexueller Orientierung), Trennung der Eltern, häufige Umzüge, Flucht und Migration können auf diese Weise eine Depressionsentstehung begünstigen. Nicht nur die persönlichen Umstände, sondern auch wirtschaftlich-gesellschaftliche Themen erzeugen bei den Jugendlichen ein Gefühl von fehlender Kontrolle. Als grösste Sorgen diesbezüglich nannten Jugendliche 2022 den Krieg in Europa, Klimawandel und Inflation (Schnetzer et al). Eine Vergleichsstudie der verschiedenen Zürcher Sekundarschulklassen A, B und C ergab, dass bei einem negativen Blick auf die Zukunft, Suizidgedanken und Suizidversuche stärker steigen, je tiefer das Bildungsniveau der Befragten ist.
Protektive Faktoren
Umgekehrt wirken eine umfassende Schulbildung sowie ein als sinnvoll empfundener Beruf protektiv. Eine unterstützende Eltern-Kind-Beziehung mit positiven Erziehungspraktiken, ein starkes soziales Netzwerk durch Freundschaften und die Teilnahme an Gemeinschaftsaktivitäten senken das Risiko für Depression. Ebenso helfen ein gutes Selbstwertgefühl und positive Bewältigungsstrategien den Kindern und Jugendlichen Entwicklungsschritte gut zu meistern. Frühe Interventionen setzen genau hier an und helfen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern, diese protektiven Faktoren wieder zu stärken.
Teil 1: Symptome und Diagnose
Teil 3: Behandlung
Teil 4: Patientengeschichte