Mitten im kaufmännischen Praktikum hatte Sevérina einen Zusammenbruch. Während einiger Monate konnte sie ihre Überforderung am Arbeitsplatz und ihr Unwohlsein in der ganzen Situation irgendwie kompensieren. Doch eines Morgens erwachte sie, und die Welt war eine andere: Wie putzt man sich die Zähne? Wie geht Haarekämmen? Sevérina kriegte alltägliche Verrichtungen nicht mehr auf die Reihe. Eine Freundin brachte sie schliesslich zum Arzt, der ein Burnout diagnostizierte. Ein paar Wochen später ging es ihr allmählich wieder besser, die extremen Konzentrationsstörungen hielten aber an. Das Burnout wurde zur Depression. Nur zwei Monate vor Abschluss hat sie ihre Ausbildung abgebrochen. Es ging einfach nicht mehr.
Mit 26 Jahren war Sevérina erstmals in einer Klinik und hatte zum ersten Mal überhaupt das Gefühl, zu leben. Vorher hat sie immer nur funktioniert. In der Klinik fand sie Gleichgesinnte, fühlte sich angenommen statt fremd, fand einen Zugang zu sich selbst und stellte sich wichtigen Fragen für ihre Zukunft. Sie erkannte, dass ihre Probleme nichts mit ihrem Job oder ihrer Beziehung zu tun hatten, sondern nur mit ihr selbst. Trotzdem hatte Sevérina noch einen langen Weg mit 32 weiteren Klinikaufenthalten vor sich: wegen Borderline-Störungen, Depressionen, einer Posttraumatische Belastungsstörung und mehreren Suizidversuchen.
Bei einem dieser Klinikaufenthalte ist sie durch eine Mitpatientin auf ein trialogisches Seminar aufmerksam geworden, wo sich Betroffene, Angehörige und Fachleute zum gleichberechtigten Austausch treffen. Sevérina haben diese Treffen und die Gespräche in der Gruppe geholfen zu verstehen, wie ihr Partner, der sie zum trialogischen Austausch begleitete, die Situation mit ihrer psychischen Erkrankung erlebt, wie es ihm dabei geht, wie er das alles überhaupt aushält. Auch ihm haben diese Seminare gutgetan. Als Paar lernten sie, nicht wegzuschauen, sondern anzusprechen, wenn sich eine neue psychische Krise ankündigt. «Das hat unsere Beziehung gestärkt und vielleicht auch sogar erst in ihrer heutigen Tiefe ermöglicht», sagt Sevérina. «Ein Netz, das einem trägt und ein System, auf das man sich verlassen kann sind ausserordentlich wichtig. Für mich war es gar überlebenswichtig. Es gab und gibt natürlich weiterhin Krisen in meinem Leben, aber ich muss sie heute nicht mehr so akut werden lassen».
Als sich ihre Mitpatientin das Leben nahm, wollte Sevérina den Versuch wagen, selber trialogisch zu arbeiten. So kam sie dazu, Jugendliche ab der dritten Sekundarklasse in der Schule zu besuchen und mit ihnen über Diagnosen, Symptome und den Umgang mit psychischen Krankheiten wie zum Beispiel Borderline zu sprechen. Die Fragen der Jugendlichen waren direkt und unverblümt, das gefiel Sevérina. Und das Feedback, dass sie von Lehrern, von Eltern und von Schülern erhielt, war durchwegs positiv und ehrlich. Diese Arbeit und die Teilnahme an den trialogischen Seminaren mit ihrem Partner waren wichtige Faktoren für Sevérinas Genesung.
Heute bietet Sevérina als eine von sechs festangestellten Peers in einem 30-Prozent-Pensum in der Clienia Littenheid Einzelberatungen an: für Patientinnen und Patienten, für Mitarbeitende und Gruppenangebote, wie zum Beispiel die Patientenzufriedenheitsgruppe «Ihre Meinung ist uns wichtig». Sie hat gelernt, achtsam zu sein und zu spüren, wieviel sie bei diesen Gesprächen von sich selber preisgeben will. Schliesslich ist sie ja selber noch in einer ambulanten Behandlung. Die Rückmeldungen der Patientinnen und Patienten sind ausnahmslos positiv: «Endlich habe ich eine Ansprechperson, die mir auf Augenhöhe begegnet, die aus eigener Erfahrung weiss, wie es mir geht und was hilft.» «Natürlich bleiben Erfahrungen immer individuell», sagt Sevérina, «trotzdem vermittle ich Patientinnen und Patienten mit meiner Erfahrung Hoffnung für deren Genesung». Daneben besucht sie derzeit eine CAS-Weiterbildung zur Fachberaterin Psychotraumatologie und kann somit Peer-Beratungen mit Traumafachwissen verknüpfen. Neben der Arbeit mit Patientinnen und Patienten macht sie auch Fachschulungen bei Mitarbeitenden und kann gute Feedbacks geben, wie Dinge bei Betroffenen ankommen. «Das ist hilfreich für beide Seiten», ist sie überzeugt. Oft gibt sie Fachpersonen den Input: «Entdecke deinen eigenen Peer-Anteil und nutze deine persönliche Krisenerfahrung.» Diese Erkenntnis könne gut in die tägliche Arbeit einfliessen und würde allen helfen, besonders aber den Patientinnen und Patienten.
Beitrag Nr. 1: Was ist ein Peer?
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Beitrag Nr. 3: Peerarbeit in der Clienia