Soziale Phobie: Geschichte eines Patienten

Soziale Phobie: Geschichte eines Patienten

Maxim* fühlt sich im Umgang mit anderen Menschen unsicher. Ständig hat der 23-jährige Student Angst, sich zu blamieren, ausgelacht oder kritisiert zu werden. Deshalb verhält er sich passiv und andern gegenüber stark angepasst. Oft zieht er sich komplett zurück.

Das Verhalten seines Vaters, einem Alkoholiker, erlebte Maxim stets als unvorhersehbar. Im Nu konnten Situationen eskalieren. Lachte sein Vater in einem Moment, so geriet er im nächsten ohne Vorzeichen komplett ausser sich, tobte, bedrohte die Familie. Um solch unzuverlässigem Verhalten aus dem Weg zu gehen, hielt Maxim, schon seit er ein kleiner Junge war, Abstand von seinem Vater. Die Sucht des Vaters wurde in der Familie nie thematisiert. Seine Mutter erlebte er als starke Frau, wollte ihr aber nicht zur Last fallen – sie hatte auch so schon genügend Probleme am Hals. So hat Maxim immer versucht, seiner Mutter keinen Kummer zu bereiten, war ein fleissiger Schüler und ein gehorsamer Junge. Oft lief die Kommunikation zwischen Mutter und Sohn nonverbal, ihr Blick genügte, um ihn in sein Zimmer zu schicken. Im letzten Jahr unternahm die Mutter einen Suizidversuch. Während sich seine Schwester abgrenzte, musste Maxim deren «Fehlverhalten» kompensieren, besonders stark sein, sich noch perfektionistischer verhalten, Verantwortung für die ganze Familie tragen. Er konnte sich nicht vorstellen, ein Leben unabhängig von seiner Herkunftsfamilie zu führen. Eine Privatsphäre kannte Maxim nicht, er hat seiner Mutter immer alles erzählt. Ihre Beziehung beschreibt er heute als symbiotisch. Als viel zu eng und ohne Raum für seine eigene Entwicklung. Nach dem Suizidversuch verbrachte die Mutter einige Zeit in einer Klinik und fand dort die Kraft, sich von ihrem Mann zu trennen. Seither geht es ihr besser, sie ist glücklicher, trifft sich mit Freundinnen, geht tanzen. Trotzdem gerät sie immer wieder in Krisen, wo sich Maxim sofort wieder verantwortlich fühlt.

Als Maxim vor drei Jahren fern seiner Heimat anfing zu studieren, ist er in eine WG gezogen. Dort fühlte er sich sehr unwohl. Es bereitete ihm grosse Mühe, mit Fremden zusammenzuleben und das Unvertraute auszuhalten. Es gelang ihm nicht, authentisch zu sein, auf andere zuzugehen, obwohl er das gerne wollte und ihn diese Menschen ja eigentlich interessierten. Zu gross war die Angst, sich zu blamieren, ausgelacht und blossgestellt zu werden. Maxim fühlte sich, als würde er eine Maske tragen. Auch schwierig empfand er, nie zuverlässig zu wissen, wer wann da ist und ob er stört, wenn er sich in der Küche etwas aus dem Kühlschrank holt. Vorschläge für Unternehmungen machte er nie, sondern wartete, bis andere aktiv wurden. Durch diese fehlende Eigeninitiative unterdrückte er seine eigenen Bedürfnisse – immer machte er, was die andern wollten, bis er sich schliesslich nur noch in seinem WG-Zimmer verkroch.

Nach einer ambulanten Therapie trat Maxim schliesslich diesen Sommer auf die Station «Pünt Nord» in Littenheid ein. Er fühlte sich total hoffnungslos. In den vergangenen acht Wochen arbeitete er daran, sich weniger verantwortlich zu fühlen, Gefühle zuzulassen, seinen eigenen Platz zu erobern und auch mal nein sagen zu können. Als besonders hilfreich empfand er die Schematherapie. In seinen Bezugspersonen fand er Ansprechpartner, die ihn anspornten, den Mut aufzubringen, präsent zu sein anstatt sich zurückzuziehen. In der Therapie bekam er hilfreiche Werkzeuge dazu. Es ist Maxim bewusst geworden, wie er sich verhält und dass er sein Verhalten beeinflussen kann. «Ich verlasse die Klinik mit einem Paket voller Skills, von denen ich glaube, dass ich sie gut anwenden kann. Aber es liegt noch ein langer Weg vor mir». Er hat noch nicht entschieden, ob er weiterstudieren oder nach Hause zur Mutter zurückkehren wird.

*Name geändert

Teil 1: Symptome und Diagnose
Teil 2: Ursachen
Teil 3: Behandlung

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