Ich beobachte Elias in einer Gruppenstunde der «Linde C». Die Station ist mit sechs Jungen voll belegt. Die jungen Patienten, alle zwischen 8 und 12 Jahre alt, sind aus unterschiedlichen Gründen auf der Kinderstation, Elias wegen seiner Tic-Störung. Er sagt nicht viel, wirkt gedanklich etwas abwesend und bewegt sich viel, anstatt ruhig auf seinem Sitzsack zu sitzen. Hin und wieder murmelt er: «Mir ist langweilig». Wenn man es nicht besser wüsste, wäre man geneigt, zu behaupten, Elias sei einfach unruhig und eben: gelangweilt. Und dass sich auf den ersten (Laien-)Blick viele Jungen ähnlich verhalten, wie er das tut. Die Oberärztin von «Linde C» bestätigt: «Viele Kinder haben vorübergehende Tic-Störungen. Zum Problem werden sie erst, wenn dadurch Dinge nicht mehr möglich sind oder wenn der Leidensdruck für das Kind zu gross wird.»
Elias’ Tic-Störungen haben erst vor ein paar Monaten angefangen und sind bis zu seinem Klinikeintritt vor sechs Wochen immer stärker geworden. Körperliche Befunde konnten ausgeschlossen werden. In der Schule ist er dauernd von seinem Stuhl aufgesprungen und hat dadurch den Unterricht gestört. Ihn selber störte aber am meisten, dass dieser Tic sehr auffällig ist und sich dann alle Augen auf ihn richteten. Solche Situationen kamen mehrmals am Tag vor und stressten ihn so sehr, dass seine Angst davor immer grösser wurde und er nicht mehr zur Schule gehen wollte. Dazu kamen dann noch weitere Beeinträchtigungen, zum Beispiel konnte er wegen seiner immer stärker werdenden Tics sein Fahrrad nicht mehr kontrolliert lenken und fiel deshalb öfters hin.
Auf «Linde C» zeigte sich, dass Elias schnell unter Druck gerät und Mühe hat, mit Veränderungen umzugehen. Er baut nur langsam Vertrauen zu seinen Therapeutinnen und Betreuungspersonen auf. Kinder mit Tic-Störungen haben oft Komorbiditäten, bei Elias ist es eine emotionale Störung. Aufgrund seines Alters stehen ihm noch viele Entwicklungsschritte bevor. Jeder einzelne kann eine Überforderung für ihn sein. Deshalb ist eine professionelle Begleitung für Elias essentiell. Seine behandelnde Psychologin sagt: «Ziel der stationären Therapie ist es, den Leidensdruck des Kindes zu verringern». Wichtig sei auch, dass in der Familie und in der Schule Aufklärungsarbeit betrieben werde. «In Klassenverbänden, wo dies gut klappt, können Kinder mit Tic-Störungen oft problemlos integriert werden», fügt die Oberärztin hinzu. «Wichtig ist auch, den Eltern die Angst zu nehmen. Eine Tic-Störung kann zwar ein Leben lang andauern, aber sie ist ungefährlich. Und man kann etwas dagegen tun.»
Inzwischen hat Elias schon grosse Fortschritte gemacht und merkt manchmal, wenn sich ein Tic ankündigt. «Man kann dies mit einem Niesreflex vergleichen», sagt die Psychologin, «den man in einigen Situationen unterdrücken kann und in einigen eben nicht». So gelingt es Elias hin und wieder, den Tic, vom Stuhl aufzuspringen, zu kontrollieren und dafür eine andere Bewegung auszuführen. Eine kleinere, die nicht mehr so auffällt. Elias presst dann den Daumen und den Zeigefinger seiner linken Hand so fest zusammen, wie er kann. Diese Fokussierung hilft ihm, dem eigentlichen Tic die Kraft zu nehmen. Auch das Fahrradfahren, seine Leidenschaft, klappt jetzt wieder viel besser. Elias darf als Belohnung für das Erreichen seines Wochenziels eine kleine Velotour mit seiner Bezugsperson unternehmen. Er strahlt übers ganze Gesicht.
*Name geändert
> Empfehlung einer ZDF-Dokumentation zum Thema
> Teil 1: Symptome und Diagnosen
> Teil 2: Ursachen
> Teil 3: Behandlung